Einleitend ist anzumerken, dass kein Raum für die von dem Beklagten mitunter vorgenommene (vgl. etwa die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 20. Januar 2023) einheitliche Bewertung des psychischen Leidens und der Migräne ist. Nach Teil A Nr. 2 e) der Anlage zu § 2 VersMedV sollen im Allgemeinen die folgenden Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden: Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf. Eine zusammenfassende Beurteilung von Beeinträchtigungen in den Funktionssystemen Kopf und Gesicht (hier der Migräne) einerseits und Nervensystem und Psyche andererseits ergibt sich daraus nicht.
Auszugehen ist vom Einzel-GdB von 40 für das psychische Leiden. Hier liegt nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. B im Sinne von Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor, die innerhalb des vorgegebenen Bewertungsrahmens mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten ist. Dass die Klägerin ihrer beruflichen Tätigkeit noch vollumfänglich nachkommen kann, rechtfertigt keine andere Betrachtungsweise. Denn mit Ausnahme der Arbeitswelt kann die Klägerin nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. B den Anforderungen des täglichen Lebens und des häuslichen Bereichs kaum noch nachkommen. Die Haushaltsführung obliegt dem Ehemann, sozial ist die Klägerin weitgehend isoliert, ihre Fähigkeit zu körperlicher und geistiger Betätigung sowie zur Erholung ist störungsbedingt deutlich vermindert. Ein noch höherer Einzel-GdB wegen der bis mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten kommt entgegen der Einschätzung der Klägerin ... i nicht in Betracht, weil dies nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV eine schwere psychische Störung voraussetzen würde.
Ob die Migräne nach Teil B Nr. 2.3 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 30 oder 40 zu bewerten ist, kann dahinstehen. Jedenfalls liegt nach den übereinstimmenden Einschätzungen der Sachverständigen eine echte Migräne mit mittelgradiger Verlaufsform vor, für die ein Bewertungsrahmen von 20 bis 40 eröffnet ist. Dass hier im Sinne der genannten Bewertungsziffer häufigere Anfälle, jeweils einen oder mehrere Tage anhaltend vorliegen, ergibt sich ohne weiteres aus der Aktenlage und entspricht auch den Einschätzungen der Sachverständigen. Gewisse Schwankungen in den Angaben sind nicht verwunderlich und sind hier im Ergebnis unschädlich, weil jeweils ein Einzel-GdB von 30 gerechtfertigt ist. Das gilt auch ausgehend von dem Befundbericht des behandelnden Neurologen Dr. H, der zwar einerseits „nur“ zwei Anfälle im Monat für je vier Tage, anderseits eine Verschlechterung seit September 2020 mit einem Anfall in der Woche für je drei Tage mitgeteilt hat. Letztere Angabe entspricht auch den Begutachtungsergebnissen mit den von Dr. P mitgeteilten elf bis 13 Kopfschmerztagen.
Ungeachtet weiterer Einzel-GdB, die hier nicht mit mehr als 10 zu bewerten sind, folgt aus den beiden Hauptleiden ein Gesamt-GdB von 50. Dabei hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest, dass aus Einzel-GdB von 40 und 30 in aller Regel ein Gesamt-GdB von 50 folgt (Urteil vom 6. Januar 2020 – L 11 SB 177/17 – juris). Dies ist auch hier nach der gebotenen individuellen Betrachtung der Teilhabefähigkeit der Klägerin der Fall (vgl. Mecke, SGb 2023, 220, 229). Das folgt allerdings nicht daraus, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. B die mit der psychischen Fehlhaltung einhergehende Anspannung die Häufigkeit und Intensität der Migräne verstärkt. Denn dieser Umstand ist bereits in die Bewertung des Einzel-GdB mit 30 für die Migräne eingeflossen. Außerdem ist nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt. Umgekehrt spricht gegen eine Erhöhung nicht der Umstand, dass nach Dr. B die Migräne maßgeblich durch die psychische Fehlverarbeitung beeinflusst wird. Denn hierbei handelt es sich um eine Beurteilung der Kausalität, die nach Teil A Nr. 2 a) der Anlage zu § 2 VersMedV für das final ausgerichtete Schwerbehindertenrecht unmaßgeblich ist. Keinesfalls folgt aus dieser Kausalität im Übrigen die von Dr. B angenommene Überschneidung der psychischen und somatischen Behinderungen. Ein solche Überschneidung ist hier auch fernliegend und wird von dem Sachverständigen Dr. P überzeugend verneint. Denn während das psychische Leiden in Form einer angstbedingten Daueranspannung vorliegt mit starken Beeinträchtigungen der Alltagsbewältigung, folgen aus der Migräne heftige Kopfschmerzen mit Übelkeit, Durchfall, einem diffusen Schwindelgefühl sowie einer Geräusch- und Geruchsüberempfindlichkeit und das in einem erheblichen Umfang von elf bis 13 Tagen monatlich. Sind damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betroffen (Teil A Nr. 3 d) aa) der Anlage zu § 2 VersMedV), liegt zudem eine Verstärkung des psychischen Leidens durch die Migräne insoweit vor, als die ohnehin stark angstbelastete Klägerin gegenüber Dr. B nachvollziehbare Ängste vor einer weiteren Migräneattacke geschildert hat. Dass die Klägerin vollschichtig als Lehrerin berufstätig ist, spricht nicht gegen eine Schwerbehinderung, was etwa § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erhellt.
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 11. Senat
24.10.2024
L 11 SB 307/23